Wenn Hunde stärker als beabsichtigt zubeißen – ist oft der Mensch schuld

In einer lockeren Runde mit Freunden und Kollegen kommen häufig Hundethemen auf, denn den meisten ist bekannt, dass ich als Hundeverhaltensberaterin unterwegs bin. Dabei werde ich oft mit Thesen und Theorien konfrontiert, die von anderen Hundetrainern geäußert oder – was selten gut ist – im Fernsehen aufgeschnappt wurden.

Vor einigen Wochen meinte ein Kollege, er sei auf einem Seminar über das Aggressionsverhalten von Hunden gewesen, und dabei sei erwähnt worden, dass Hunde grundsätzlich ganz genau wüssten, wie fest sie zubeißen, und dass es daher keinen unabsichtlichen Hundebiss gebe.

Das machte mich sehr nachdenklich. Ist das wirklich so?

Ich denke immer zuerst an meine eigenen Hunde, und da ist es doch häufig so, dass im Eifer der Emotionen auch mal ein bisschen stärker zugeschnappt wird als eigentlich beabsichtigt. Gerade wenn ich meinen Hunden mit Futter in der Hand dabei helfe, einigermaßen beherrscht an einer Katze vorbeizugehen, dann sind sie in der Regel so aufgeregt, dass sie es nicht bemerken, wenn sie statt des Futters meinen Finger erwischen oder auch mal etwas stärker zuschnappen als gewöhnlich.

Rufe ich „Aua“, dann lassen sie selbstverständlich sofort erschrocken los. Und in einer entspannten, ruhigen Situation ist ihnen das noch nie passiert, denn da sind sie dann auch wirklich in der Lage zu kontrollieren, wohin und mit welcher Kraft sie beißen.

Also: Wissen meine Hunde immer ganz genau, wie fest sie zubeißen? Nein, das tun sie nicht.

 

Hinzu kommt noch eine weitere Tatsache: Hunde haben keine angeborene Beißhemmung, das heißt, sie wissen nicht von Geburt an, wie fest sie zubeißen dürfen, bis es ihrem Gegenüber wehtut.

Welpen lernen im Spiel miteinander, wann dieser Punkt erreicht ist. Wenn ein Welpe aufschreit und das Spiel beendet, war es zu heftig. Dann wird eine Pause gemacht und später weitergespielt.

Und auch wir Menschen sind in der Pflicht, dem Hundekind zu zeigen, wann die spitzen Welpenzähne uns wehtun, indem wir uns bemerkbar machen und das Spiel kurz unterbrechen. Und das müssen wir regelmäßig wiederholen, bis der kleine Hund gelernt hat, dass er mit uns sanft umzugehen hat.

Wenn wir diese wichtige Lernphase verpassen und unserem kleinen Hund alles durchgehen lassen, weil er ja so niedlich ist, dann wird er auch später davon ausgehen, dass wir sehr unempfindliche Wesen sind und er ruhig beherzt zubeißen kann. Dem Hund hierfür einen Vorwurf zu machen wäre völlig falsch, denn wir haben es ihm schließlich so beigebracht.

Ein Hund, der dem Menschen gegenüber keine ausreichende Beißhemmung erlernt hat, weiß schlicht und einfach nicht, wann er dem Menschen wehtut. Das muss dem Hund beigebracht werden, denn von alleine kommt er nicht darauf.

 

Kommen wir zurück zu emotional aufregenden Situationen, wie ich sie oben geschildert habe. Ich denke, das kann man getrost auf alle Hunde beziehen. Denn immer dann, wenn starke Emotionen und Ablenkungen eine Rolle spielen, sinkt die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Das ist ein ganz normaler physiologischer Vorgang.

Und schauen wir noch ein bisschen weiter über den Tellerrand. Wie sieht es denn mit unserer Rechtsprechung aus? Da heißt es doch auch, dass in besonderen, emotional sehr aufwühlenden und stressigen Situationen manchmal mildernde Umstände gelten. Das nennt man dann „Handlung im Affekt“. Vielleicht ist derjenige, der „im Affekt“ einen anderen erschlagen hat, gar nicht schuldfähig, weil er durch besondere innere und äußere Umstände heftiger zugeschlagen hat als eigentlich beabsichtigt.

Mit solchen Erwägungen haben unsere Gerichte täglich zu tun, in Bezug auf Menschen.

Aber wenn wir schon unseren Mitmenschen zugestehen, sich in manchen Situationen so wenig unter Kontrolle zu haben; und wenn wir das als Entschuldigung für übertrieben starke Handlungen akzeptieren – es muss ja nicht gleich ein Mord sein –, dann finde ich es ganz schön überheblich, von unseren Hunden zu verlangen, dass sie all ihre Handlungen grundsätzlich im Griff haben sollten.

Denn das würde bedeuten, dass wir Menschen von einem Tier, das weniger rational und weniger vorausschauend denkt als wir, mehr Rationalität und Voraussicht erwarten als von uns selbst.

Für uns nehmen wir in Anspruch, im Affekt handeln und auch mal heftiger als gewollt reagieren zu dürfen. Unsere Hunde aber dürfen das nicht.

Affekthandlungen sind etwas, das man unwillkürlich tut. Über eine Affekthandlung denkt man nicht nach, sondern man handelt erst und überlegt sich danach erst, ob das gerade schlau war. Und genau das ist der Grund, warum wir von unseren Hunden nicht erwarten dürfen, dass sie sich jederzeit komplett unter Kontrolle haben. Das können sie gar nicht, es wäre schlicht und einfach zu viel verlangt.

Wir Menschen sind in der Lage, Situationen vorherzusehen. Wir können vorausschauend handeln. Und wir müssen das auch tun, wenn wir mit unseren Hunden zusammen sind.

Das heißt:

Wenn ich einen jagdbegeisterten Hund habe, dann muss ich mich darauf vorbereiten, dass er beim Anblick des Rehs, das in einiger Entfernung von uns über die Felder läuft, gleich ziemlich heftig reagieren wird.

Habe ich hingegen einen Hund, der sich schnell bedroht fühlt, und ich bringe ihn in eine bedrängte Lage, dann brauche ich mich ebenfalls nicht zu wundern, wenn er sich heftig verteidigt.

Wenn ich einen Hund habe, der im Spiel schnell überdreht und dann auch mal zuschnappt, dann darf ich ihn nicht so hochpushen. In dem Fall wäre ich selber schuld, wenn er in dieser Situation nach mir schnappt. Denn ich wusste, was ich tue, und ich habe mich meinem Hund gegenüber unfair verhalten, indem ich ihn so aufgedreht habe.

All das sind Dinge, die ich als Mensch beachten muss, damit mein Hund überhaupt in der Lage ist, sich zu beherrschen und nicht zu heftig zuzuschnappen. Das nennt man Fair Play.

(Inga Jung, Februar 2014)

Vermenschlichung

Ich las neulich in einer Hundezeitschrift einen Leserbrief, in dem eine Dame meinte, die Hunde würden immer mehr vermenschlicht. Sie fragte, was das den Hunden bringen würde.

Diesen Gedankenansatz finde ich interessant. Es steht sicher außer Frage, dass man von Hunden kein Sprachverständnis erwarten darf. Dass man von Hunden nicht verlangen darf, vorausschauend und in die Zukunft planend zu denken. Dass Hunde sich nicht um Modetrends und Äußerlichkeiten kümmern. Ich denke, das ist mit Vermenschlichung in erster Linie gemeint, und hier ist ganz klar eine Grenze zu ziehen: Von Hunden Dinge zu verlangen, die sie nicht verstehen und die ihrem Wesen nicht entsprechen, ist Tierquälerei.

Wir sollten uns aber auch nicht zu weit von dem Lebewesen Hund distanzieren, denn auch das ist nicht gut. Wenn wir den Hund zu weit von uns abrücken, dann neigen wir Menschen leider dazu, weniger Mitgefühl zu empfinden. Und das ist fatal. Dann kommt es wieder zu Äußerungen wie: „Das ist doch nur ein Hund.“ Das dürfen wir nicht zulassen. Nur weil ein Lebewesen sich in vielen Aspekten von uns unterscheidet, hat es doch unseren Respekt verdient.

Um meinen Kunden einen Einblick in das Wesen und die Gefühlswelt ihrer Hunde zu vermitteln, greife ich gern zu Vergleichen. Ich versuche sie dazu zu bringen, sich in ihren Hund hineinzuversetzen, damit sie nachvollziehen können, was ihn in bestimmten Situationen antreibt. Denn gerade bei einem langwierigen Training muss dieses Verständnis als Basis vorhanden sein. Ist das nicht der Fall, dann wird der Hund schnell als „begriffsstutzig“ abgeschrieben und die Leute geben zu früh auf. Wenn sie aber begriffen haben, wie schwer ihrem Hund diese Situation fällt, dann sind sie eher bereit, ein zeitintensives Training durchzustehen.

Ein Beispiel:

Ein Hund hat Angst vor fremden Menschen und bellt diese an. Der Hundetrainer, bei dem die Leute vorher waren, fragte allen Ernstes: Wollen Sie eine schnelle Lösung oder wollen Sie lange trainieren? Auf die Antwort hin, dass eine schnelle Lösung schick wäre, zückte der Trainer die Wasserflasche und spritzte den Hund jedes Mal voll, wenn er bellte. Natürlich hörte der Hund sofort auf zu bellen, jaulte, duckte sich und verkroch sich. Trainer zufrieden, ein voller Erfolg. Das Verhalten des Hundes fremden Menschen gegenüber wurde allerdings in der Folgezeit heftiger.

Nun rief man mich an und erzählte mir die Geschichte. In solchen Situationen ist es sehr hilfreich, einen Vergleich zu ziehen und die Hundebesitzer zu bitten, sich vorzustellen, sie hätten beispielsweise panische Angst vor Spinnen, Schlangen oder etwas ähnlichem (das darf sich jeder nach Belieben aussuchen). Auf einmal seilt sich direkt vor ihrem Gesicht eine riesige Spinne ab und nimmt Kurs auf ihre Nasenspitze, und sie haben keine Möglichkeit auszuweichen. In Panik schreien sie los – und ihr Partner kippt ihnen im selben Moment einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf. Hilft das gegen die Angst vor der Spinne? Nicht wirklich, oder? Und ist das Vertrauen in den Partner anschließend gestärkt? Wird er ihnen das nächste Mal helfen? Vermutlich nicht.

Solche oder ähnliche Vergleiche helfen uns Menschen, uns in die Lage anderer zu versetzen. Sie helfen uns, Situationen zu verstehen, die uns auf den ersten Blick albern oder sinnlos erschienen.

Ist das auch Vermenschlichung? Vielleicht könnte man es so nennen. Aber ich finde es wichtig, die Distanz zu unseren Hunden nicht zu groß werden zu lassen. Unsere Hunde sind zwar keine Menschen, aber sie haben doch dieselbe Gefühlswelt wie alle Säugetiere. Sie empfinden Angst, Schmerz, Liebe, Freude, Trauer und Glück, genauso wie wir – ja, das wurde inzwischen sogar schon wissenschaftlich nachgewiesen, obwohl ich es eigentlich traurig finde, dass das überhaupt notwendig ist, denn es ist doch so offensichtlich.

Wir dürfen von unseren Hunden nicht erwarten, dass sie Dinge verstehen, die nur wir Menschen verstehen. Hunde planen nicht in die Zukunft, und sie sind auch nicht nachtragend. Sie interessieren sich nicht für modische Frisuren und sie nehmen die Welt anders wahr als wir. Aber sie erleben ihre Gefühle genauso wie wir es tun – vielleicht sogar intensiver als wir – und darauf müssen wir Rücksicht nehmen, das dürfen wir nicht ignorieren. Daher ist es auch erlaubt, hin und wieder mal die Perspektive zu wechseln und uns in unsere Hunde hineinzuversetzen, die Welt aus ihrem Blickwinkel zu betrachten, einfach um sie besser verstehen zu können.

(Inga Jung, Februar 2014)